Zwischen materieller Zeichenhaftigkeit und ästhetischer Illusion: Formierungen von Repräsentation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit
17.06.2014 von 18:00 bis 20:00
Sandra Braun, Doktorandin am Kunsthistorischen Institut
Um 1500 existiert in den
Bildkünsten eine Vielfalt an Verismuskonzepten, die unterschiedliche mediale
Möglichkeiten und Gestaltungsoptionen des Bildes und damit dem Rezipienten
verschiedene Projektionsflächen, Wahrnehmungsmöglichkeiten und Zugänge
offerieren. Dabei entsprechen der jeweiligen formalen Genese spezfische
inhaltliche Aussagen, die an eine veränderte Bilderzählung und Vermittlung
gekoppelt sind. Mit der niederländisch-burgundischen Kunst des 15. und 16.
Jahrhunderts und dem weltweiten hohen Ausstoß an Altarbildwerken Brüsseler und Antwerpener
Werkstätten, deren offensichtlichstes Merkmal das Trompe-l'oeil ist, erfährt
insbesondere der Realismus am Retabel – im privaten sowie im öffentlichen Raum
der Andacht – eine gesteigerte Präsenz. Über die mimetische Malerei und deren
Poteniale (Künstlerwissen) manifestiert sich dabei die Illusion der realen
Präsenz des Repräsentierten an der Schnittstelle von materieller und mentaler
Bildproduktion auf der einen und der Bildaktivität auf der anderen Seite. In
der südniederländischen Retabelproduktion werden um 1500 insbesondere Themen
und Programme zur Vergegenwärtigung des Passionsgeschehens sowie marianische
Zyklen repräsentativ inszeniert und das vergangene Geschehen durch
Blicklenkungen, Blicküberblendungen und -akzentuierungen dem Rezipienten
erinnernd und nachdrücklich in der Gegenwart veranschaulicht. Innerhalb einer
einheitlich organisierten Gesamtsanlage (narrativer und theologischer
Zusammenhang) werden Klein- und Kleinsträume sowie Architekturen
(Mikrostrukturen des Retabels) in ihrer Kleinteiligkeit akzentuiert und
inszeniert, während innerhalb der Bildsysteme eine auf Effekte konzentrierte
Ausdruckssteigerung des Dargestellten dominiert. An der Schnittstelle von
Realismus, Illusion und Bildaktivität wird durch Gestik, Motorik und Mimik der
Figuren und der Betonung der stofflichen Präsenz und Materialitäten
insbesondere der Anbetungsgestus und Anbetungsakt (Fleischwerdung Christi,
Inkarnation in der Geburt) bildhierarchisch aufgewertet, in bildlicher und
emotionaler Eindringlichkeit vergegenwärtigt und (devotionale) Anschauung und
(ästhetischer) Sinn beim Betrachter zusammengeführt. Bildlicher und
inhaltlicher Kulminationspunkt dieser auf Emotionsstrategien ausgerichteten
Kommunikation und Formierung eines direkten
Handlungsappells ist das Stifterbild, das als Kontrastfolie zum
Künstlerbild wirkt. Das Antwerpener Retabel von 1518 in der Chorscheitelkapelle
der Marienkirche zu Lübeck soll den Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen
dartellen. Das künstlerisch wie räumlich-ikonographisch als Gesamtkunstwerk
gestaltete Kapellenensemble der Marienkirche zu Lübeck demonstriert ein
grundsätzliches Zusammenwirken der Baustruktur und seiner bildlichen
Ausstattung. Darüber hinaus ist über die einheitliche Wahl der Bildthemen und
der Herstellerregion (Internationalisierung) sowie der Monumentalisierung des
Bildmaßstabes innerhalb der Ausstattungskonzeptionen des frühen 16.
Jahrhunderts eine enge personelle Vernetzung der Stifter zu konstatieren, die
der städtischen Oberschicht Lübecks angehörten. Daran zeigte sich zu Beginn des
16. Jahrhunderts ein komplexes Beziehungsgefüge zwischen Kirche und städtischer
Oberschicht, mithin zwischen sakraler und profaner Einflusssphäre, die durch
die memoriale Stiftungspraxis und gesellschaftlich-programmatische Repräsentation
der Bürgerelite im Kirchenraum definiert wurde. Die Pfarrkirche St. Marien
bot den ihr zugeordneten Personenkreisen
in den Jahren ihres wirtschaftlichen und politischen Aufstiegs Möglichkeiten
zur Erneuerung sowie zur Stiftung von herausragenden Komplexen. Inwieweit
spiegelte sich folglich in den Ausstattungskonzeptionen des 15. und 16.
Jahrhunderts in der Marienkirche zu Lübeck die Herausbildung einer städtischen
Elite und somit ein sozialer Wandel wieder? Welche Bildformulierungen und visuellen
Repräsentationsstrategien wurden hingegen von den städtischen Oberschichten des
16. und 17. Jahrhunderts zur Prononcierung eines Anspruches im Kirchenraum
verwendet? Die gesellschaftlichen Oberschichten der Frühen Neuzeit definierten
ihren Status in höchstem Maße durch Erinnern, was nach entsprechenden Formen
der statusgenerierenden und statusbekräftigenden Repräsentation verlangte. In
dieser Studie sollen nun diese Repräsentationsbestrebungen in den Hansestädten
der südlichen Ostseeküste und der Zusammenhang von Memoria und politischer
Macht exemplarisch am Beispiel der Marienkirche zu Lübeck analysiert werden.
Ausgangspunkt der Untersuchungen bildet vor dem Hintergrund des Kultur- und
Gedächtnisbegriffes nach OEXLE und ASSMANN eine Interpretation des Kirchenraumes
als Erinnerungs- oder Gedächtnisraum. Gerade in vergleichender Perspektive auf
die Ausstattungskonzeptionen des ausgehenden 15. und des beginnenden 16.
Jahrhunderts in der Marienkirche zu Lübeck kann insbesondere auch vor dem
Hintergrund der Konfessionalisierungsfrage ein Wandel in der memorialen Praxis
für die Frühe Neuzeit aufgezeigt werden. Der niederländischen Kunst und
mimetischen Malerei kommt hierbei im Rahmen spätmittelalterlicher
Ausstattungskonzeptionen entscheidende Bedeutung zu.